So fühlt sich Digitalisierung an

Überall wird die drohende Digitalisierung heraufbeschworen. Mit all seinen negativen Auswirkungen auf die Arbeitswelt. Doch die Digitalisierung kommt nicht. Wir stecken bereits mitten drin. Es fühlt sich nämlich genauso an, wie bei den letzten beiden Malen.

Michael Spacil von fynup über seine persönlichen Erfahrungen mit Digitalisierung

Manche Branchen wurden nämlich schon längst „wegdigitalisiert“. Meistens Nischen, deswegen ist es in der breiten Bevölkerung nicht so aufgefallen. Als gelernter Reproduktions-Techniker war ich selbst in so einer Nische tätig und ich kann mich noch sehr gut erinnern. Die Druckvorstufe – grob beschrieben der Bereich zwischen Grafik und Druck – war einst hoch angesehen. Äußerst gut bezahlte Spezialisten stellten in zeitaufwändiger Handarbeit mit viel Geschick und Erfahrung die Druckvorlagen her. Scanner waren große Kästen, die meist auf zwei Räume aufgeteilt waren. Ihre Bediener, die Scanner-Operator, konnten im Schlaf die Zahlenwerte jedes erdenklichen Bilddetails einschätzen. Es gab mächtige Gewerkschaften, hervorragende Kollektivverträge, bestens bezahlte Überstunden und Zeitausgleich.

Und dann tauchte Anfang der 90er Desktop-Publishing auf. Stundenlange Handarbeit wurde durch wenige Klicks ersetzt. Was allein in Österreich hunderte Arbeitsplätze vernichten sollte, wurde von den alten Hasen viel zu lange nicht ernst genommen. Die Argumente klangen damals exakt, wie die Beruhigungsparolen heute: „Das ist alles noch nicht soweit.“ – „Das Spielzeug kann es mit meinem bewährten System nicht aufnehmen.“ – „Das dauert noch so lange, da bin ich längst in Pension.“ – und so weiter. Überlebt haben letztendlich nur jene, die sich rechtzeitig auf die neue Technik eingelassen haben. Denn der Schritt vom so genannten Proof-of-concept (im Sinne von „So könnte es funktionieren.“) bis zu dem Punkt, an dem die neue Technik die alte überholt, scheint für die Betroffenen immer riesig zu sein. Die Erfahrung zeigt, dass die technische Entwicklung immer viel rasanter geht, als man denkt. 

Von den alten Reprotechnikern gibt es heute nur mehr eine Handvoll. Ähnlich revolutionär und fast noch schneller ging der Umbruch in der klassischen Fotografie – einer der Reprofotografie verwandten Branche. Auch hier wurden die neuen Digitalkameras nicht ernst genommen. Viel zu schlechte Auflösung, viel zu langsam, das dauert noch ewig, wer weiß ob das was wird – genau die gleichen Argumente. So manch ein Profi-Fotograf hielt viel zu lange an der analogen Technik fest und wurde links und rechts von meist jungen, frechen Mitbewerbern überholt, die meist nicht einmal gelernte Fotografen waren. Die neue Technik machte den Zugang leichter, der Wettbewerb wurde härter, die alten Zünfte versuchten sich mit den Paragraphen des Gewerberechts dagegen zu stemmen. Erfolglos.

Ich war zweimal mittendrin, habe mit dem Abstand eines Jahrzehntes zweimal fast die gleichlautenden Beschwichtigungen gehört, und zweimal die gleichen Auswirkungen miterlebt. Anfangs nimmt es fast keiner ernst und dann geht plötzlich alles ganz schnell.

Und jetzt fühlt es sich wieder genau gleich an, wie die letzten beiden Male: Nur trifft es diesmal viel mehr Menschen, viel größere Branchen. Mit die Ersten werden Banken und Versicherungen sein mit allen, die dazu gehören – also auch Makler, Agenten, Außendienstler. Die großen Player investieren gerade Unsummen in die Digitalisierung ihrer Prozesse. Es fühlt sich nicht nur so an, auch die Sprüche sind wieder einmal gleich.

Aber es gibt Hoffnung: Denn nur, wer den Kopf in den Sand steckt, wird gnadenlos untergehen. Diejenigen, die am Laufenden bleiben, die sich für das Neue interessieren und bereit sind, eigene Praktiken und Geschäftsmodelle zu überdenken, haben mit ihrem Vorwissen auch in Zukunft die besten Chancen auf Erfolg. 


Dieser Text stammt von Michael Spacil, er ist gelernter Reproduktionstechniker und einer der Gründer von fynup. In den 90ern konnte er tatsächlich rechtzeitig auf den Digitalisierungszug aufspringen, der durch seine Branche gerauscht ist. Heute profitiert er als selbständiger Texter, Grafiker, Fotograf, Videofilmer und Webdesigner noch immer von den Erfahrungen, die er einst in der manuellen Druckvorstufe gemacht hat.